rt239 – himmel in orange (2023)

In unserer zweiten Radiotipi-Sendung haben wir über einen besonderen Tag in San Francisco erzählt. Am Neunten September Zweitausendzwanzig war der Himmel über San Francisco in dunkles Orange gehüllt. Es gibt viele Augenzeugenberichte und Fotos von diesem apokalyptischen Tag. Und plötzlich wurde über den zweiten BladeRunner-Film berichtet und diskutiert, als befänden wir uns bereits im Jahr 2049.

Wir wiederholen heute unser Radiofeature zu den Waldbränden in Kalifornien aus dem Jahr 2020. Vom Jahr 2023 werden vor allem die grössten bisherigen Waldbrände in Kanada, dramatische Waldbrände auf Inseln und Rekordhitzewellen in verschiedenen Ecken der Welt in Erinnerung bleiben. Wir beleuchten heute den Himmel in Orange

Tagesschau am 10.09.2020

HÖREN: rt239 – Himmel in Orange (2023)

  • Trenner Blade Runner 2049 (hans zimmer)

Die Farbe orange
Orange ist meine Lieblingsfarbe. wer erinnert sich noch an Monsoon Wedding, diesen herzzerreißenden Film aus Indien? Eine moderne Oper in orange. Ringelblumen, Bollywood, Safran, Exstase. Oder Orangina, die Limonade aus dem Wünsch-dir-was-Labor. Die Niederlande, die Power in orange. Kürbisse, Halloween, die Piratenpartei, Hollywood, the big orange, Los Angeles, los diaz de los muertos, Gräber in orange. Die Farbe der Freude und der Trauer. orange ist auch eine signalfarbe: im Mittelmeer zeigen orangene Schwimmwesten Menschen im Wasser, Menschen in Lebensgefahr. Sanitäterinnen, Lebensretterinnen, tragen oft Jacken in orange. Gefängnisseninsassinnen werden durch orangefarbene Kleidung besser erkennbar gemacht. In Berlin arbeiten die Müllmänner in Orange. In unserer Kommunikation spielt die Ampel eine große Rolle. Es gibt eigentlich nur drei Farben: grün, gelb und rot. Obwohl nicht vorhanden in der technischen Ampelanlage, sprechen wir gerne davon, dass es Orange gewesen sei. Wenn wir sagen wollen, dass dunkelgelb oder leichtrot angezeigt wurde, meinen wir Orange. Diese Farbe zeigt einen Übergang, einen Zustand, der sich weiterentwickeln wird. Am Mittag des neunten September 2020 war die Bay Area in Kalifornien, mittendrin die Stadt San Francisco, in dunkles Orange gehüllt.

  • Song1 little fluffy clouds

Das Foto des Jahres 2020
Am Tag danach, am Donnerstag den zehnten September war ein Bild von der Klimakatastrophe in der Tagesschau zu sehen. Es könnte das Foto des Jahres Zweitausendzwanzig werden. Ein Bild von San Francisco, wahrscheinlich von Mount Tamalpais aus fotografiert. Aus dem Norden ist die Stadt San Francisco zu sehen, davor die Golden Gate Bridge. Die Brücke führt hinein zwischen die Hügel der Halbinsel. Mehr schemenhaft als deutlich sind dort die Hochhäuser der City zu erkennen, dazwischen das Salesforce-Gebäude als Mittelpunkt der Skyline von San Francisco. Nach links, Richtung Osten ist noch die Bay Bridge nach Oakland zu erkennen, aber dann löst sich der Blick auf. Im Bild gibt es mehr Dunkel als Licht. Es gibt viele kleine Lichter, die irgendwie gedimmt wirken und keine echte Leuchtkraft verstrahlen. Es ist um die Mittagszeit in der Bay Area, dennoch wirkt das Bild wie eine Nachtaufnahme. Das Bild besitzt einen diffusen Glanz mit einer fesselnden Ausstrahlung. Orange hat das gesamte Bild besetzt und alles darunter gleichgemacht. Diese Ansicht der Stadt San Francisco ist um die Welt gegangen. Viele andere Fotos zeigen ähnliche Eindrücke von diesem Tag in der Bay Area. Dort war die Welt an diesem Tag eine Welt in Orange.

Brian eno – thursday afternoon (unter Beitrag legen)

Roger

Ich bin zuerst um fünf Uhr morgens aufgewacht – ich habe draußen geschlafen, weil es mir innen zu warm war. Ich wusste, dass die Luft wie immer gegen sieben Uhr morgens schlechter werden würde, also ging ich hinein und als ich wieder aufwachte war es zehn Uhr morgens. Es war fast völlig dunkel. Ich schaute hinaus und die Sonne war eine verbrannte, kaum sichtbare Orange – die Luft war nicht so schlecht – die schlechte Luft gab es erst am nächsten Tag – als ich ein Foto davon machte, sah die Sonne aus wie eine blasse Zitrone. Die Zeit, zu der viele Leute diese orangen Farben sahen, war später, als der Nebel abgezogen war. Um dieselbe Zeit war es bei uns in Berkeley noch dunkler und hässlicher. Vor ein paar Wochen, im August, sah ich die Blitzeinschläge in der Nacht, in der alles am frühen Morgen begann – es regnete in dieser Nacht. Die Blitzeinschläge konzentrierten sich an drei Stellen, an denen später die großen Feuer brannten. Riesige Blitze, immer und immer wieder. Ein Freund in Santa Cruz verbrachte Tage auf seinem Dach, um zu verhindern, dass Funken sein Haus niederbrannten.

Es war vier Tage hintereinander über vierzig Grad gewesen. Wir haben mit Eiscreme überlebt. Ich hatte einen solarbetriebenen Ventilator aufgestellt, davor war es innen sechzig Grad oder höher … Keine Klimaanlage, nur Ventilatoren und Eiscreme … Am dunklen Tag fielen die Temperaturen bis auf zwanzig Grad und sind seitdem dort geblieben, nachts ist es kälter. Mein Auto hatte eine Ascheschicht, die ich abwaschen musste, damit ich erfolglos nach einem Luftreiniger suchen konnte. Alle großen Läden waren längst ausverkauft … Ich habe eine industrielle Feinstaubmaske, für die ich den Filter wechseln wollte. Ich bestellte sofort einen neuen Filter und dachte, die Lieferung kommt innerhalb von zwei Tagen – erst am nächsten Tag wurde mir klar, dass der Filter erst am kommenden Donnerstag eintreffen würde. Hoffentlich klappt das! Die Luft ist hier jetzt überall allgemein schlecht und hat mehrmals Dreinhundert P-P-M erreicht. Ab einhundertfünfzig P-P-M sollte niemand mehr rausgehen. Für alte Leute ist diese schlechte Luft eigentlich unerträglich.

Zu dieser Jahreszeit regnet es an der Küste frühestens im November. Weiter nördlich regnet es früher, so dass Gebiete wie Oregon, die besonders getroffen sind, hoffentlich bald Erleichterung bekommen. Die Brände in der Nähe der Bay Area sind größtenteils erloschen. Es sind nur die neuen großen Brände im Norden, die uns jetzt weh tun. Normalerweise beginnt die Feuersaison in Los Angeles erst Ende September, aber die Satellitenkarten zeigen von Washington State bis nach Mexiko, dass jetzt alle unter einer riesigen Rauchwolke zusammenhängen. In der Bay Area gab es anfangs unterschiedliche Luftqualitätswerte, aber jetzt haben alle die gleichen sehr hohen Werte. Die schlimmsten Werte gibt es auf den Autobahnen, auf denen sich starker Verkehr ansammelt. Der große Mautplatz zwei Meilen entfernt erreichte vierhundert P-P-M, das meiste davon aufgrund von Autos, die im Verkehr stecken.

Die Nachrichten zeigten viele Bilder in Orange. Meins war nicht hübsch, sondern sehr hässlich. Der emotionale Schock beeinflusste auch die Reaktionen der Menschen. Ich hatte Angst hinauszugehen, da es wie das Feuer vor dreissig Jahren aussah, das die Hügel von Oakland niederbrannte und bei den Menschen in der Nähe des Feuers bleibende Lungenschäden verursachte. Dieses Feuer hatte viel Plastik verbrannt und sah aus wie eine Atombombe. Dieses Mal sah es einen Tag wie ein nuklearer Winter aus. Mit einem Vulkanausbruch kann es aber nicht verglichen werden, das wäre schlimmer, je nachdem wie weit weg der wäre. Ein Vulkanausbruch in Asien begrub zwei Militärbasen unter drei Metern Asche, das waren keine feinen Staubteile. Vor einer Stunde sagten sie voraus, dass es sich bis Mitte der Woche aufklären würde. Ich habe Schlafstörungen und denke an die Vögel und die Obdachlosen, die dieser Katastrophe nicht ausweichen können.

VIDEO 3:05, SOUND VON BLADE RUNNER ZWEI (Hans Zimmer), unter Beitrag

Einen Tag nach diesem traumatischen Ereignis wurde ein kurzer Videoclip auf Youtube veröffentlicht.
„Blade Runner: San Francisco 2-0-2-0“ ist nur fünfundvierzig Sekunden lang und verbreitete sich blitzschnell weltweit. Das Video wurde millionenfach gesehen und vielfach kommentiert. Es zeigt einen Drohnenflug durch das verdunkelte San Francisco am neunten September. Viele Betrachter glauben zuerst nicht, dass es San Francisco um die Mittagszeit zeigt, gegen dreizehn Uhr. Die Bilder wurden mit dem Soundtrack aus dem Film Blade Runner ZWEI unterlegt. Die Wirkung ist katastrophal faszinierend. Der Drohnenflug durch die Hochhäuser, der Blick nach unten in die Strassen, die Autos auf der Bay Bridge, beleuchtete Fenster im Salesforce-Gebäude. Die Büros sind menschenleer, die Menschen arbeiten von zuhause. Der Blick nach unten ist bestechend klar, nach oben hin versinkt die Welt im Dunst. Alles ist in helle bis dunkle Orangetöne getaucht. Dazu Stimmen aus dem Netz:

“Apocalyptic” Orange Skies – das sieht aus wie Blade Runner zweitausendneunundvierzig – nuklearer winter – eine Szene aus Hellboy – das sieht Krank aus – Blade Runner Zweitausendzwanzig – eine Rauchdecke in orange – China sieht das ganze Jahr so aus – Willkommen in der neuen Normalität – Wir wussten, dass so etwas passieren würde – Schneller als erwartet – jetzt bekommt Blade Runner endlich die angemessene Aufmerksamkeit – das Leben imitiert die Kunst – Frisco ist die wirkliche Stadt in Dicks Roman – Ich stelle mir gerade vor, wie dieser Platz im Jahr zweitausendneunundvierzig aussehen wird – ich wünschte mir, dieser Videoclip wäre länger, vierundzwanzig Stunden lang – Zweitausendzwanzig, das Jahr in dem der Cyberpunk Wirklichkeit wurde – ich vermisse fliegende Autos – im Video fehlen die Krawalle – Mars-Kolonie, Total Recall, Mordor? Nein, Kalifornien … Zweitausendzwanzig!

  • Song2 the nerv

Octavia E. Butler 2:00
Wenn alle vom Film Blade Runner sprechen, dann legen wir den nächsten Gang ein, wechseln das Medium und stellen ein Buch vor. Wer dieses Buch einmal gelesen hat, wird sich immer wieder wundern, wie sich die Geschichten aus dem Buch über und unter die erlebte Wirklichkeit legen und scheinbar wie angegossen passen. Über die Autorin Octavia E. Butler schreibt ganz frisch Julian Dörr auf spex.de im Mai Zweitausendzwanzig:
„IN IHREN GESCHICHTEN BESCHREIBT SIE DEN WIDERSTAND GEGEN DIE UND DIE ARBEIT AN DER VERBESSERUNG DER GEGEBENEN VERHÄLTNISSE. GLEICHZEITIG IST IHR WERK ABER AUCH GENAU DAS: ARBEIT AN EINER BESSEREN ZUKUNFT FÜR ALLE.“

Octavia Estelle Butler kam neunzehnhundertsiebenundvierzig in Pasadena, einem Stadtteil von Los Angeles zur Welt. Schon mit zwölf Jahren verfasste sie erste Science-Fiction-Kurzgeschichten. In den neunzehnhundertachtziger Jahren gewann sie mit der Erzählung Bloodchild die vier wichtigsten Sciencefiction-Preise gleichzeitig, nachdem sie bereits ein Jahr zuvor den Hugo Award erhalten hatte. Butler ist eine der prägenden Akteurinnen des Afrofuturismus. Sie starb nach einem Unfall im Alter von achtundfünfzig Jahren Zweitausendsechs vor ihrem Haus im Lake Forst Park in Washington State. Sie hatte damit eine Lebensreise beendet, die genauso wie die Reise der Heldin im Buch „Parabel of the Sower“ aus dem Süden Kaliforniens in die nördlichste Ecke der Westküste der USA führte.

  • Trenner

Die Parabel vom Sämann. 3:30
„Kalifornien im Jahre 2025: Die Regierung ist handlungsunfähig, der Bundesstaat leidet unter Wasserarmut. Wer es sich leisten kann, lebt hinter dicken Mauern zum Schutz vor den kriminellen Banden, die ohne Gnade rauben, vergewaltigen und morden. In dieser Welt wächst die fünfzehnjährige Lauren Olamina als Tochter eines Baptistenpriesters auf. Sie ist hyperempathisch – sie fühlt die Schmerzen anderer am eigenen Leib. Als ihre kleine Gemeinde angegriffen und zerstört wird, macht sie sich auf eine gefährliche Reise nach Norden, um ihren Platz in dieser Welt zu finden …“ „Die Parabel vom Sämann“ von Octavia E. Butler wurde neunzehnhundertdreiundneunzig als „Parabel of the Sower“ in den USA veröffentlicht. Die deutsche Übersetzung von Kurt Bracharz erschien neunzehnhundertneunundneunzig im Heyne-Verlag, rechtzeitig zum Milleniumswechsel. Die Parabel vom Sämann erscheint „aus heutiger Perspektive beinahe prophetisch. Butler selbst schrieb“ das Buch „als Warnung. Ein warnendes Beispiel darüber, wo die Reise hingehen könnte, wenn sich gewisse Entwicklungen fortschreiben.“ Es gibt noch einen zweiten Band „The Parable of the Talents“, der aber bisher nicht übersetzt wurde. „Die Apokalypse ist in den Parables … kein doomsday, „kein plötzlicher Zusammenbruch“, keine effektreiche Hollywood-Blockbuster-Katastrophe. Die Apokalypse ist grausam banaler Alltag, eine schleichende Entwicklung, ein langsames Erodieren. Die Dinge, die schon lange beschissen waren, werden immer beschissener.“ Schreibt Julian Dörr über das Buch.

Wie aus Butlers Notizen hervorgeht, hat sie die Rodney-King-Beatings in „Die Parabel vom Sämann“ weitergesponnen. Rodney King war neunzehnhunderteinundneunzig in Los Angeles bei seiner Festnahme von mehreren Polizisten brutal zusammengeknüppelt worden. Die Videoaufnahme davon verbreitete sich schnell weltweit. Nach dem Freispruch für die beteiligten Polizisten kam im Jahr darauf in L.A. zu gewalttätigen Unruhen in deren Verlauf dreiundfünfzig Menschen starben und mindestens zweitausend weitere verletzt wurden. Im Buch spielen außerdem viele unkontrollierbare und vorsätzlich gelegte Feuer, schwache US-Präsidenten und Gated Communities zentrale Rollen. Butler beschreibt Katastrophen eindringlich beeindruckend. Gleichzeitig zeigt sie einen Weg aus der Katastrophe: Solidarität, Zusammenarbeit, Kooperation, Liebe statt Hass und Mut zum Widerstand sind ihre Angebote an diejenigen, die sich nicht in die Katastrophe fügen werden.

  • Song3 rene – prenda la vela

ANMOD RENE
Rene lebt bereits ihr ganzes Leben lang in San Francisco. Sie hat für uns per Email Fragen zum Buch von Octavia E. Butler beantwortet.

Sound von BLADE RUNNER Blues, Vangelis, (unter Beitrag)

Rene, San Francisco

Du hast „Die Parabel vom Sämann“ im Literaturunterricht behandelt. Was ist an diesem Buch besonderes? Welche Zusammenhänge mit der Wirklichkeit siehst Du?

Seit ich es gelesen habe, habe ich die „Parabel vom Sämann“ immer wieder empfohlen. Ich unterrichtete Englischschüler an der High School. Als Teil einer Science-Fiction-Einheit entschied ich mich für dieses Buch, weil ich dachte, dass es bei meinen Schülern, von denen die meisten schwarze und lateinamerikanische Schüler aus Kalifornien sind, genauso wie Lauren Olamina aus dem Buch, Anklang finden würde. Unmittelbar nach der Wiederwahl Obamas im Jahr zweitausendreizehn habe ich die Theorie vorgestellt, dass es bei spekulativer Fiktion nicht darum geht, die Zukunft vorherzusagen, sondern unsere Gegenwart zu reflektieren. Die Parabel vom Sämann fühlte sich wie eine extreme Welt an, die ernsthafte Resonanzen mit unserer eigenen Welt hatte. Wir hatten eine schreckliche Dürre, eine Opioid-Epidemie, die Süchtige wie die Pyromanen in dem Buch hervorbrachte, und natürlich Rassismus und Einkommensungleichheit. Die Landschaft Kaliforniens und die vertrauten Orte, die die Protagonistin Lauren durchquert, fühlten sich für uns wie zu Hause an, und ich benutzte das Buch, um zu diskutieren, wie die Themen in dem Buch bereits in unserem eigenen Leben präsent waren. Ich denke, aufgrund des Rassismus und der Armut, mit denen meine Schüler konfrontiert sind haben sie leicht gesehen, dass dies kaum Science-Fiction war, sondern eher ein Spiegelbild des wirklichen Lebens. Die Mehrheit meiner Schülerinnen lebt in Sozialwohnungen oder wurde von San Francisco rausgentrifiziert. Wenn ich es heute unterrichten würde, würde es eher wie eine Roadmap und eine ernsthafte Aussage darüber aussehen, wie wir uns auf die nächste Zukunft vorbereiten können. Tatsächlich habe ich Laurens „GO-BAG“, die Liste für den Notfallrucksack benutzt, um zu erfahren, wie ich meinen eigenen packen kann. Für die Menschen an meinem Standort ist es meiner Meinung nach eine wichtige Lektüre, um zu überlegen, wie unsere aktuelle Situation außer Kontrolle geraten und wie gemeinsam eine neue Zukunft aufgebaut werden kann. Ich denke auch, dass Butlers Status als eine der ersten farbigen Frauen, die im Genre der Science-Fiction Erfolg haben, ihre Werke kanonisch macht.

Einen wesentlichen Bestandteil der Gesellschaftsstruktur im Buch bilden Gated Communities. Was hat es damit auf sich?

Der Aspekt der Gated Community des Buches ist für mich einer der gruseligsten. Mein Mann und ich kommen aus Ländern, in denen dies viel häufiger vorkommt, aus Mexiko und Peru, wo das Klassensystem viel auffälliger ist, obwohl es natürlich auch in den USA vorhanden ist. Ich denke manchmal an die Parabel vom Sämann, wenn ich auf mein eigenes Haus schaue, dessen Tor die Eingangstür vor der Straße schützt, und ich fühle mich schuldig, wie viel sicherer ich mich mit diesem Tor fühle und mich vor meinen Nachbarn und Mitbürgerinnen schütze. Was ich in Amerika eher bemerke als Menschen die sich abschotten, ist der Unterschied zwischen denen, die sich frei auf der Welt bewegen können, und denen, die es nicht können. Die Waldbrände in Kalifornien lassen sich durch keine Mauer fernhalten. Wer jedoch über die Ressourcen verfügt, um entweder dauerhaft oder während immer intensiverer Feuerjahreszeiten an einen günstigeren Ort zu ziehen, kann sich vor den schlimmsten Folgen schützen. Wenn Sie stattdessen eine Person mit wenig Geld oder mit dem falschen Einwanderungsstatus sind, werden Sie gefangen sein.

Du hast zusammen mit Deinem Mann zwei Kinder. Wann würdet Ihr aus Kalifornien wegziehen?

In Bezug auf meine eigene Familie kann ich mir nicht vorstellen, wohin wir gehen würden. Ich bin tief in Kalifornien und insbesondere in San Francisco verwurzelt. Ich beneide Menschen, die Bürger der Welt sind und sich vorstellen können, anderswo ein Leben zu führen. Ehrlich gesagt scheint Berlin momentan ziemlich attraktiv zu sein, zumindest im Sommer. Die progressive Blase von San Francisco zu verlassen, wäre ein politischer Schock für mich, es gibt nicht viele andere Orte in den USA, die auf mich attraktiv wirken. Aber wichtiger für mich ist meiner Meinung nach die kulturelle Frage. Ich bin eine Chicana, Kalifornierin der dritten Generation. Ich weiß nicht, wie ich ohne meine Großfamilie und ohne meine Stadt mental oder psychisch überleben könnte. Als ich anderthalb Jahre in Madrid lebte, lagen mein heutiger Ehemann und ich im Bett und träumten von all dem Essen, das wir essen würden, wenn wir nach San Francisco zurückkehren würden, beginnend mit einem echten Mission Burrito. Deshalb haben mir meine Eltern zu meinem Geburtstag Pintobohnen geschickt, weil sie in Spanien einfach nicht die gleichen waren.

Das Gleichnis vom Sämann war für mich zutiefst beeindruckend. Es hat einige Entscheidungen in meinem Leben geleitet, einschließlich paradoxerweise die Entscheidung, ein zweites Kind zu haben. So beängstigend es auch ist, Leben in diese Welt zu bringen, mein Hintergedanke bei der Entscheidung, ein zweites Kind zu bekommen, war: „Zumindest wird mein Kind ein Geschwister haben, mit dem es in der Apokalypse über die Autobahnen wandern kann“, so wie Lauren im Buch reist. Und obwohl dies in seinem Wunsch, optimistisch zu wirken, sehr amerikanisch klingt, denke ich, dass dieses erschreckende Buch einige Hoffnung bietet. Ich glaube, es zeigt uns, wie Menschen zusammenkommen, Veränderungen annehmen und zu Vorbildern werden können, wenn die „Gesellschaft“ auseinanderfällt. Natürlich ist das zweite Buch, die „Parable of the Talents“ noch beängstigender, und ich werde es möglicherweise noch einmal lesen, um zu sehen, was mit uns passieren wird, wenn Trump wiedergewählt wird…

Climate Change

„NEUSPRECH“ ist die Sprache des totalitären Regimes in Orwells dystopischem Roman neunzehnhundertvierundachtzig. Mittels NEUSPRECH wird zur Verschleierung der eigenen Absichten und zur Massenkontrolle der allgemeine Sprachgebrauch manipuliert. Dabei wird beispielsweise der „KRIEGSMINISTER“ in „VERTEIDIGUNGSMINISTER“ umbenannt. Der Romanist Victor Klemperer untersuchte die Veränderung des Sprachgebrauchs im Dritten Reich. Klemperer hat festgehalten, wie die Armee von Joseph Goebbels ihren totalen Sprachkrieg gegen das eigene Volk geführt hat. Was würde Klemperer von der Feststellung halten, dass die deutsche Presse beständiges Greenwashing betreibt? Der populär gewordene Begriff „KLIMAVERÄNDERUNG“ bezeichnet etwas, was bereits vor fünfzig Jahren an den Universitäten unterrichtet wurde. Im Jahr zweitausendzwanzig befinden wir uns in einer fortgeschrittenen, anhaltenden „KLIMAZERSTÖRUNG“. Wieso taucht der Begriff „KLIMAZERSTÖRUNG“ trotzdem nur so selten in den medien auf?

Nahezu phantastisch, also unglaublich, wie so eine Geschichte aus der Phantasie, klingen aktuelle Rechercheergebnisse von Medienbeobachtern aus den USA: von hundert Berichten über die Waldbrände an der Westküste enthielten nur fünfzehn den Hinweis auf den Zusammenhang mit der gestiegenen, durchschnittlichen Umwelttemperatur, mit dem „Climate Change“. „Climate Change“ wäre wörtlich betrachtet die Entsprechung von Klimaveränderung in deutsch. Die Ergebnisse der Medienbeobachter weisen darauf hin, dass in den USA der Begriff „Climate Change“ genausowenig benutzt wird wie der Begriff „Klimazerstörung“ in Deutschland. Dass also in den USA sogar der Begriff KLIMAVERÄNDERUNG vermieden wird. Wenn aber nicht die fortgeschrittene, anhaltende, von Menschen gemachte „KLIMAZERSTÖRUNG“ die Ursache für die verheerenden Waldbrände ist, wer ist dann schuld an dieser totalen Tragödie?

  • Song4 Fatboy slim – praise you

Fake News:

Wir betreten die Welt der Fake News. Jetzt wird es wirklich phantastisch. Es hätten sich Gerüchte in den Sozialen Medien verbreitet. Gerüchte über die Schuldigen, diejenigen die diese verheerenden Feuer verursacht hätten. Weil diese Gerüchte wertvolle Polizeiarbeitszeit verbrennen, musste diesen Gerüchten Einhalt geboten werden. Mehrere lokale Sheriffsbüros in Oregon veröffentlichten Stellungnahmen, dass es keine Beweise dafür gäbe, dass die „ANTIFA oder andere Vigilante Groups“ die Feuer verursacht hätten. Natürlich heizten sie damit diese Verleumdungskampagne aus den sozialen Netzen weiter an. Vermutlich damit sich Alle schnell wieder beruhigen, bestätigte das FBI mit einer eigenen Erklärung die Erklärungen der lokalen Sheriffs. Die Presse stürzte sich auf diese Erklärungen und verbreitete die wichtige Nachricht, dass es doch nicht die ANTIFA war. Präsident Trumps Einmischung machte schliesslich deutlich, dass im Wahlkampf Propagandavideos zirkulieren, die die Antifa und den Präsidentschaftskandidaten der Demokraten Joe Biden gleichermassen verleumden.

  • Trenner kikeriki

V No Fake News

Fake News haben die unangenehme Eigenschaft, dass sie uns Zeit stehlen, dass sie unsere Aufmerksamkeit verschwenden. Dann verpassen wir schlimmstenfalls Nachrichten, die uns wertvolle Informationen mitteilen. Nachrichten, die uns helfen könnten, kompetente Entscheidungen zu treffen. Es folgen Nachrichten, die nicht viel Aufmerksamkeitszeit verbrauchen und keine Fake News sind. Die beiden Nachrichten passen gut ins Gesamtbild von dem Tag, an dem alles orange war:

Einen Tag nach dem neunten September berichtete Democracy Now über Unruhen südlich der Grenze. Tausende Bauern stürmten am Dienstag einen Damm im mexikanischen Nordgrenzstaat Chihuahua. Mit Feuerbomben, Stöcken und Steinen trieben sie Soldaten der Nationalgarde zurück, die mit Tränengas und scharfer Munition das Feuer eröffneten und zwei Demonstranten töteten. Die Bauern fordern, dass Mexiko aufhört, Wasser vom La Boquilla-Staudamm in die USA umzuleiten. Sie sagen, dass sie ihre Ernte in einer sengenden Dürre nicht mehr bewässern können.

Am einundzwanzigsten September ging folgende Schlagzeile durch die deutsche Presse: Reiche schädigen Klima sehr viel stärker als Arme. Es folgt ein Ausschnitt aus der Süddeutschen Zeitung: Das reichste Prozent der Weltbevölkerung ist für mehr als doppelt so viel C-O-zwei-Emissionen verantwortlich als die ärmere Hälfte der Menschheit zusammen. Reiche schädigen das Klima also sehr viel stärker als Arme. Das geht aus einem Bericht hervor, den die Entwicklungsorganisation Oxfam vor der Generaldebatte der fünfundsiebzigsten U-N-Vollversammlung veröffentlicht hat.

  • Song5 hollywood undead, california dreamin

Schlussbild
Es hat angefangen mit einer gewaltigen Hitzewelle im Südwesten der USA, in Arizona über Kalifornien und Oregon bis hinauf nach Washington State. Die Feuermeldungen explodierten und das grosse Brennen ging los. In wenigen Tagen hatten diese Feuer alle bisherigen Dimensionen übertroffen und ihr eigenes Klima erzeugt. Die Rauchschwaden aus den verschiedensten Feuern in diesen Regionen vereinigten sich zu einer zusammenhängenden, riesigen Wolken- und Dreckdecke. Eine Woche später hatte sich diese RauchWolke ausgebreitet über New Mexiko, Texas, Kansas, Iowa und Wisconsin bis hinauf an die Kanadische Grenze. Noch südlicher wurden auch Nordmexiko und die Halbinsel Baja California verdunkelt. An der kanadischen Westküste bekam British Columbia Rauchdreck ab. Auch Nevada, Idaho und Utah blieben nicht verschont. Zehn Tage später hatte die Decke aus Asche und Rauch New York erreicht. Viereinhalbtausend Kilometer entfernt von den Waldbränden an der Westküste.

Purple – Lila
“Purple again,” sagte der Fotoreporter Christie Hemm Klok aus San Francisco in dieser schlimmen Woche zu seiner Frau. Neben orange zeigte sich in dieser Zeit noch eine zweite Farbe häufiger in der Öffentlichkeit. „Schon wieder lila“, das ist im Jahr Zweitausendzwanzig die Farbe für die schlechteste Luftqualität der Welt. Der A-Q-I, der Air Quality Index, der Luftqualitätsindex, zeigt per PPM den Zustand der Umgebungsluft. P-P-M bedeutet „Parts per Million“, „Anteile pro Million“. In den USA zeigen die Graphiken bei zweihundert bis dreihundert PPM lila. Pure Purple. Das bedeutet, dass die Luft mit mikroskopisch kleinen Partikeln gefüllt ist und bleibende Schäden bei atmenden Wesen hinterlässt.

Herz
Welt ohne Werbung! In dem katastrophal faszinierenden Video vom Drohnenflug über San Francisco am neunten September Zweitausendzwanzig fehlt einiges, was in den Blade Runner Filmen deutlich ins Bild gerückt wurde. Wo immer es in der Blade Runner City Platz für ein Plakat, eine Leuchtreklame oder ein VideoBillboard gibt, blinkt Werbung, Werbung, Werbung. Es gibt sogar Zeppeline, die über der Stadt fliegen und riesige Werbetafeln zeigen. Alles das fehlt im echten Blade Runner Clip aus San Francisco. Die Stadt erscheint in der Wirklichkeit aus der Drohnensicht fast völlig werbefrei. Es gibt nur eine Message, eine Nachricht, ein Angebot. Bei Sekunde dreissig ist für zwei bis drei Sekunden auf einem der vielen Hochhäuser in der Mitte von San Francisco ein deutliches, grosses, leuchtendes Herz zu sehen. Vielleicht ist das ja ein Wink aus der Zukunft? Herz statt Werbung, Hearts instead of commercials!

Paradies
Es tut uns sehr leid, dass wir am Ende dieser Sendung noch eine schlechte Nachricht vermelden müssen: Paradise down! Das Paradies ist eine Stadt in Nordkalifornien. Im November zweitausendachtzehn wütete dort das CampFire. Am Abend des achten Novembers meldeten die Behörden, dass Paradise brenne und fast vollständig zerstört sei. Paradise — ist — ABGEBRANNT.

  • Song6 eagles, hotel california

Seit 2020:

Seit der Erstausstrahlung dieser Radiosendung gab es vermehrt Waldbrände:

2021 in Chile, Zypern, der Türkei, Algerien und Österreich
2022 in Italien, Kalifornien, Spanien explodiert, Brandenburg mehrmals, Böhmische und Sächsische Schweiz, Österreich, im Grunewald in Berlin, in Russland, Chile und Tansania
2023 explodieren Waldbrände in Kanada und die New Yorkerinnen und New Yorker haben ihren eigenen „Himmel in Orange-Tag“.
Warum ist der Himmel orange in New York?
Waldbrände in Kanada färben Himmel in New York orange berichtete die Neue Osnabrücker Zeitung am 09.06.2023.
Warum sieht die Luft in New York so orange aus? Das hängt mit dem Rauch in der Luft zusammen. Wenn bei den Feuern etwa Bäume verbrennen, entstehen kleine Asche-Teilchen. Der Wind wehte diese Teilchen bis nach New York.

Die Emissionen der verheerenden Waldbrände in Kanada sorgten Anfang Juni 2023 für weltweites Aufsehen. Selbst im über 1000 Kilometer entfernten New York waren die Auswirkungen deutlich zu spüren. Dichter Rauch führte zu markanten Sichteinschränkungen und gesundheitlichen Problemen bei der Bevölkerung.

Feuerwehrleute weltweit kämpften in diesem Sommer mit Waldbränden – auffallend viele Inseln waren von den Feuern betroffen, wie Teneriffa und etwa Rhodos, Sizilien, Hawaii und Zypern. 

Wo gibt es die meisten Waldbrände?
Nach Angaben des „World Wide Fund For Nature“ (WWF) ist Zentralafrika jenes Gebiet der Erde, wo es pro Jahr am meisten brennt. Die US-Raumfahrtbehörde definiere Afrika als „Kontinent in Flammen“, weil hier 70 Prozent der weltweiten Brände stattfinden.

Klimawandel macht Hitzewellen wahrscheinlicher
Extreme Temperaturen hielten im vergangenen Jahr nicht nur Südeuropa, sondern auch Teile der USA, Mexiko und China im Griff – teils mit Temperaturen von mehr als 45 Grad. In der Vergangenheit sei es „im Grunde unmöglich“ gewesen, dass solche schweren Hitzewellen zur selben Zeit aufgetreten seien, sagte die Klimaforscherin Friederike Otto vom Imperial College London. In der Zukunft könne sich dies aber noch verschlimmern. „So lange wir fossile Brennstoffe verbrennen, werden wir mehr und mehr dieser Extreme sehen.“

SPECIAL THANX:
Für ihre Mitarbeit an diesem Radiotipi-Medienmagazin gibt es SPECIAL THANX für:

Tabea und Jörg aus Chemnitz, Renè, Susann und Don aus San Francisco, Roger aus Berkeley, Uli aus Nevada City, Martha aus Colorado, Birgit aus Vancouver, Renè aus L.A., Bodo aus Hamburg, Lila Laune aus Berlin, den unbekannten Produzenten des „Blade Runner: San Francisco 2-0-2-0“ Videoclips, alle Leute, die Bilder in Orange gepostet haben, Wikipedia und besonders unser Team in den Oakland Hills.

HÖREN: rt239 – Himmel in Orange (2023)

Drohnenflug durch S.F. mit Sound aus BladeRunner2049 (Musik von Hans Zimmer) 0:45
https://www.youtube.com/watch?v=x_m9TUP_t_Y

PLAYLIST:

blade runner 2049, soundtrack (hans zimmer)
the orb, little fluffy clouds
brian eno, thursday afternoon
the nerv, san francisco
blade runner, soundtrack (vangelis)
la familia pena-govea, prenda la vela
fatboy slim, praise you
hollywood undead, california dreamin
eagles, hotel california

Originalsendung „Himmel in Orange“ von 2020
https://www.mixcloud.com/signal23/radiotipi-202-himmel-in-orange/